Am 10. September erschien bei Modern Recordings ein neuer Longplayer des Gitarristen Pat Metheny unter dem Titel Side-Eye – NYC (V1-IV). Ich bekam es bei Zeiten auf den Tisch, um es zu begutachten. Es ist eben Pat Metheny, der immer wieder zu überraschen weiß. Diesmal mit Live-Aufnahmen. Obwohl eigentlich klar ist, was man erwarten darf, besticht der Künstler immer wieder mit seiner zum Markenzeichen gewordenen Unberechenbarkeit.
Entstanden ist ein explosives, vielschichtiges Werk, das einerseits 30 Minuten brandneues, aufregendes Material des US-Gitarristen vereint, während er sich andererseits ein paar Klassiker aus dem eigenen Backkatalog auswählt und sie vollkommen neu interpretiert. Als einziger Musiker, der ein ganzes Dutzend seiner insgesamt 20 GRAMMY-Auszeichnungen in 12 verschiedenen Kategorien (!) gewinnen konnte, ist seine Unberechenbar- und Vielseitigkeit sogar offiziell belegt. Methenys zuletzt veröffentlichtes Album Road To The Sun sorgte etwa in Klassikkreisen für Furore, weil Fans von bewegender, aufregender Kammermusik hier voll und ganz auf ihre Kosten kamen. Das kurz davor veröffentlichte From This Place-Album stammte hingegen von einem ganz anderen Ort: Für Downbeat das „Jazzalbum des Jahres“, klangen seine Kompositionen im Jahr 2020 absolut ausladend, gewaltig und zeitlos…
Wofür also steht der Titel Side-Eye?
„Ich wollte damit eine Plattform erschaffen: Ein Format, in dessen Rahmen ich ab sofort mit all den spannenden jungen Leuten zusammenarbeiten kann, die ich nach und nach für mich entdeckt habe.
Seit meinen Anfängen in Kansas City habe ich selbst immer wieder davon profitiert, dass mich ältere Musiker*innen an ihre Seite geholt haben, was mir die Chance gab, mich im Spektrum ihres jeweiligen Erfahrungsschatzes weiterzuentwickeln, weil ich mich natürlich den Herausforderungen stellen musste, die ihre Musik jeweils mit sich brachte“, berichtet Pat über diese neue Projektreihe.
„Mein Gefühl sagte mir, dass ich mich jetzt gerade auf einen spezifischen Ort konzentrieren sollte – daher der Fokus auf jüngere Talente aus New York City, die mich zuletzt fasziniert haben, und wo scheinbar momentan eine neue Community entsteht. Mir scheint es, als würde so alle 10, 12 Jahre eine neue Generation von Musiker*innen auf den Plan treten, die exakt auf derselben Wellenlänge sind wie mein Sound bzw. wie das, was sie nun mal gerade darin erkennen. Zuletzt ist das mit der Generation um Josh Redman, Christian McBride, Brad Mehldau und Antonio Sanchez geschehen, und wie’s aussieht, passiert es jetzt gerade wieder.“
„Denn genau wie damals, hörte ich plötzlich von all diesen jungen Leuten in der Szene der Stadt, die sich bei mir meldeten und davon sprachen, was für ein wichtiger Einfluss doch meine Alben und Songs für sie seien. Wenn mein Terminkalender es zulässt, versuche ich sie dann immer zu mir nach Hause einzuladen, um ein wenig zusammen zu spielen. Meistens passiert das alles dann ganz organisch, ganz ungezwungen. Sie sind buchstäblich mit den Aufnahmen groß geworden, spielen sie schon seit ihren Anfangstagen, so wie’s bei mir auch war mit den Vorbildern, mit denen ich dann später auch zusammenspielen sollte.“
„Eric Harland, der grandiose Schlagzeuger und übrigens ein sehr guter Freund von mir, rief mich eines Tages an, weil er mir von James Francies erzählen wollte. Er sagte, Francies wolle mich unbedingt treffen. Ich schlug daher gleich eine richtige Session vor, zusammen mit einem Bassisten. ‘Bei James brauchst du keinen Bassisten!’, rief Eric daraufhin. Ja, es war ein unglaublicher Tag, und so entstand dann auch die Idee der Edition dieser neuen Reihe, als ich James und sein einzigartiges Talent entdeckt hatte.“
Dem losen Bandkonzept gab Metheny schließlich den Projektnamen Side-Eye, verbunden mit der Hoffnung, dass in Zukunft ganz unterschiedliche Musikerinnen und Musiker in immer neuen Konstellationen unter diesem Banner zusammenfinden. Bislang gab es vier Besetzungen – daher auch der Zusatz „V1-IV“ im Titel des neuen Albums.
„Als James dann zugesagt hatte, wollte ich diese ganzen unfassbar talentierten Drummer anhauen, die sich da momentan in der Szene tummeln. Eric selbst ist ja, wie gesagt, ein unglaublicher Schlagzeuger, und bei einigen der ersten Performances habe ich auch mit Anwar Marshall gearbeitet, einem der besten Jungs aus Philly, die man momentan finden kann. Danach hat Nate Smith mit James und mir eine Tour durch Japan absolviert, was auch fantastisch war, und dann ist auf dem Album auch noch Marcus Gilmore zu hören, den ich kenne, seit er so um die 12 war… er ist nämlich der Enkel meines allergrößten Helden: Roy Haynes. Für die kommenden Performances habe ich außerdem Joe Dyson eingeladen. Joe ist noch so ein Ausnahmeschlagzeuger, ursprünglich aus New Orleans, weshalb er für die nächsten Sachen ganz neue Möglichkeiten ins Spiel bringt.“
Wenn man bedenkt, in wie vielen grundverschiedenen Konstellationen Metheny in den zurückliegenden Jahrzehnten aufgetreten ist, stellt sich unweigerlich die Frage, in welchen Kategorien er sein eigenes Output einteilt – und wo er überhaupt Grenzen zieht. „Ich hatte ja schon in meinen Anfangstagen in der Regel mehrere Bands gleichzeitig“, holt er aus, „und das war in den Siebzigern und Achtzigern alles andere als üblich: Die Leute hatten halt ihre eine Band, das war’s. Kann sogar sein, dass ich irgendwann einfach zu gut darin geworden bin, diese unterschiedlichen Dinge mit immer neuen Namen und kulturellen Rahmungen zu versehen. Dabei ist im Grunde genommen alles, was ich mache, ‘The Pat Metheny Group’ – ganz egal, wer nun gerade zu dieser Band zählt oder wie ich die Sache sonst womöglich gerade getauft habe. Für mich ist das alles ein Ding, und jede Zusammenkunft, bei der ich Bandleader bin, funktioniert auf dieselbe Art und Weise: Ich gebe einfach alles dafür, die bestmöglichen Kompositionen für die bestmögliche Kombination von Leuten zu finden, um so genau das zu definieren und zu präsentieren, was mich in der jeweiligen Schaffensphase gerade bewegt und interessiert.“
Gerade in den letzten paar Jahren seien „immer mehr jüngere Musiker*innen auf den Plan getreten, mit denen Gruppierungen möglich sind, wo wirklich nichts einander ausschließt; das sind auch genau die Leute, die für Side-Eye interessant sind, weil sie diese gewaltige Bandbreite abdecken. Wichtigste Konstante für mich als Leader ist dabei von Anfang an, ganz unabhängig davon, wen ich alles hinterher noch dazu hole: Wirklich sämtliche Stärken aus den Beteiligten herauszuholen und sie dazu zu bewegen, in den Sessions ihr absolut Bestes zu geben.“
Über die Hälfte des neuen Albums besteht aus brandneuen Kompositionen: „In gewisser Hinsicht ist dieses Album mit meinem früheren Longplayer Travels vergleichbar, weil es ebenfalls live aufgenommen wurde, es aber zugleich auch vollkommen neue Musik, ganz neue Konzepte beinhaltet.“ Den Auftakt der LP markiert das knapp 14-minütige Stück „It Starts When We Disappear“, das wie so viele von Methenys Kompositionen den klassischen Aufbau (Head/Solo/Head) hinter sich lässt und stattdessen sehr viel komplexere Formen annimmt – um schließlich auch noch umwerfende Soloparts von Metheny und Francies bereitzuhalten. „Im Grunde genommen haben wir es hier mit einem ‘Orgeltrio’ zu tun – allerdings ganz klar einem fürs 21. Jahrhundert. James kann mit seiner linken Hand Basslines spielen, die echt an die von Jack McDuff heranreichen, und der ist gewissermaßen mein ‘Lieblingsbassist’ unter den Organisten. Und dazu kommt, dass ich auf der Gitarre auch Bassparts einstreuen kann. Ich wollte die Idee eines Keyboard/Gitarre/Schlagzeug-Trios einfach noch ein bisschen weiter treiben, weil ich sehen wollte, was passiert, wenn ich noch ein paar von meinen ‘orchestrionischen Instrumenten’ ins Spiel bringe, einen ganz neuen Faktor also, der wieder ganz andere Herausforderungen mit sich bringt. Diese Instrumente sind jetzt ganz zu Beginn und ganz am Schluss des Albums zu hören.“
Auch dazwischen passiert extrem viel auf diesem Side-Eye-Album, wobei sich Metheny & Co. zwischenzeitlich sogar auf das eher traditionelle „Orgeltrio“ zurückbesinnen – siehe etwa „Timeline“, ein Stück, das der Gitarrist ursprünglich für ein Album von Michael Brecker komponierte, bei dessen Originalaufnahme er selbst und die Schlagzeug-Legende Elvin Jones mitwirkten. „Von dem Song hatte ich selbst noch nie eine Version eingespielt, und mit dieser Konstellation schien es einfach der perfekte Zeitpunkt dafür zu sein.“
Auf „Lodger“ hingegen begegnet man einem Metheny, wie man ihn seit seiner Interpretation von John Zorns TAP, ja womöglich schon seit „The Roots Of Coincidence“ nicht mehr gehört hat: Als echten Rocker nämlich. „Ich lasse stets das Stück selbst entscheiden, wie es gespielt werden will. Geschrieben habe ich diesen Song genau genommen sogar auf einer Akustikgitarre, irgendwann spät nachts war das. Aber bei der Probe verlangte es dann, dass ich es eher auf diese Art angehen sollte. Inspiriert und gewidmet ist dieses Stück einem großartigen Freund, der zugleich einer meiner Lieblingsgitarristen ist: Adam Rogers.“
Wie gesagt, weiß man bei Pat Metheny so gut wie nie, was einen als nächstes erwartet. Trotz der vielen Exkurse und Verwandlungen ist jedes Mal klar, dass er sich zu 100% dem aktuellen Album widmet – und wirklich alles aus sich und seinen Mitstreitern herausholt, um diese Vision Realität werden zu lassen.
Mal richtig laut und voller Energie, dann wieder ganz kontemplativ und feinfühlig, mal absolut gefasst, dann wieder komplett frei improvisiert oder gar erweitert um eine selbst entwickelte Gerätschaft, hört man doch immer ganz klar seine Handschrift heraus – und das seit bald fünf Jahrzehnten, die Pat Metheny nun schon ganz oben im Jazz mitspielt. Mit der Side-Eye-Serie schlägt er jetzt das nächste Kapitel dieser Karriere auf…